Systemische Prüfungstheorie - ein Abriss

Die Systemische Prüfungstheorie liefert eine umfassende theoretische Grundlage für die Prüfung von Organisationen, wie sie von Internen Revisoren, Wirtschafts­prüfern oder staatlichen Kontrolleuren durchgeführt werden.

Sie basiert auf der neueren soziologische Systemtheorie, welche nicht nur eine konsistente theoretische Grundlage zur Analyse von Organisationen (Systemische Organisationstheorie) liefert, sondern – da sie eine Theorie der Kommunikationssysteme ist – auch eine Grundlage für die Theorie der Prüfung (vgl. Haferkorn 2010).

Die Systemische Prüfungstheorie sieht Prüfungen als soziale Systeme, also Einheiten, welche aus Kommunikation bestehen (vgl. Luhmann 1984). Um die Prüfung zu konstruieren, muss sie der Theorie gemäß von ihren Umwelten abgegrenzt werden, indem unterschieden wird, was dazugehört (Innen) und was nicht dazu gehört (Außen). Um eine Unter­scheid­ung zu treffen, bedarf es eines oder vieler Beobachter. Im Fall von Prüfungen sind relevante Beobachter - neben den Initiatoren der Prüfung, die den Prüfungsauftrag geben – vor allem die unmittelbaren Teilnehmer der Prüfung, also Prüfer und Geprüfte, welche verhandeln, was zu einer Prüfung gehört.

Die so von der Prüfung selbstbeobachtete Prüfung/Umwelt-Unterscheidungen wird in jeder Kommunikation der Prüfung mitkommuniziert und so die Grenze zwischen Prüfung und Umwelt in die Prüfung wieder eingeführt. Dementsprechend kommt eine zentrale Aktivität der Prüfung als soziales - und damit autopoietisches - System zum Tragen, nämlich die Beobachtung ihrer Grenze gegenüber ihrer Umwelt und deren Wiederein­führung als systemeigene, interne Operation in die Prüfung. Dabei wird in den Kommunikations­prozessen einer Prüfung auch die Erwartungen der Umwelten an die Prüfung formuliert, d.h. insbesondere die Anforderungen an die Prüfung in Form von Aussagen über die Prüfung kommuniziert. In Folge dieser Konstruktion kommt es zu der für spätere Überlegungen notwendigen Komplexität und Widersprüch­lichkeit des Systems „Prüfung“. Wird nämlich die Beschreibung der Kommunikation in die Kommunikation wieder eingeführt und zwar so, dass jede Bedingung der Möglichkeit der Aussage zugleich auch die Bedingung ihrer Unmöglichkeit ist, ergeben sich Paradoxien.

Eine in dieser Form fundierte Prüfungstheorie ermöglicht es, unterschiedliche Typen von Prüfungen gegeneinander abzugrenzen und zu vergleichen. Wie bei jeder Kommunikation kann im Prüfungsprozess die Verhandlung dreier „Sinndimensionen“ beobachtet werden (vgl. Luhmann 1984, S. 112 ff.): Es geht (1) um sachliche Inhalte (Sachdimension), (2) um die Beziehungen von Teilnehmern an der Kommunikation (Sozialdimension) und (3) um Fragen der zeitlichen Ordnung von Prozessen (Zeitdimension). Diese Dimensionen können Prüfungen kategorisieren und analysieren helfen, woraus sich dann Handlungsan­weisungen für die Prüfungspraxis ergeben. (vgl. Simon 2014. S. 7 ff. und S. 78 – 84 für Beratung sowie Systemische Organisationsberatung)

IT-Prüfer diskutieren z. B. mit den IT-Experten der geprüften Organisation über „harte Fakten“, wie die Ausgestaltung des Quellcodes einer Software. Es findet ein Gespräch unter Experten darüber statt, ob ein technisches Problem mathematisch korrekt gelöst ist (Sachdimension).

Hat der Geprüfte schlechte Erfahrung in vorangehenden Prüfungen gemacht, wird er die Beziehung zu Prüfern grundsätzlich kritisch sehen und dem Prüfer zurückhaltend begegnen. Daher tut ein Prüfungsteam gut daran, die Vorerfahrungen und Erwartungen der Geprüften zu kennen, um das gegenseitige Rollenverständnis zu klären (Sozial­dimension).

Eine ausführliche, wochenlange Prüfung mit vielen Befragungen erlaubt i.d.R. weitergehende Erkenntnisse als eine nur kurz dauernde Prüfung mit wenigen Befra­gungen (Zeitdimension).

Ohne eine Theorie fällt es schwer, die Sinnhaftigkeit von Prüfverfahren zu beur­teilen. Das hat nicht nur die in den vorangehenden Beispielen dargelegten Auswirkungen auf die Prüfmethodik, sondern auch auf das Rollenverständnis des Prüfers: Während traditionelle Prüfungsansätze einen unabhängigen, objektiven Prüfer postulieren, der die Prüfung steuert, geht die Systemische Prüfungstheorie von einem weitaus breiteren theoretischen Fundament aus, welches subjektive Sichtweisen zulässt und eine uneingeschränkte Kontrolle des Prüfungsprozesses in Frage stellt (Vgl. Puhani 2014). Die in der Systemischen Prüfungstheorie angelegten Zweifel an der traditionellen Rolle des Prüfers, dienen jedoch nicht dazu, eine Gegenposition zu den existierenden Prüfungsstandards aufzubauen und berechtigte gesellschaftliche Forderungen an Prüfungen infrage zu stellen. Auch besteht nicht etwa eine pessimistische Haltung gegenüber dem Sinn von Prüfungen oder den Fähigkeiten von Prüfern. Ganz im Gegenteil! Erst eine Theorie, welche z. B. „Unabhängig­keit“ und „Objektivität“ nicht voraussetzt, erlaubt es, Mittel und Wege aufzuzeigen, wie ein Prüferteam mehr Unabhängigkeit und Objektivität erreichen kann. Die Systemische Prüfungstheorie kann so die Prüfer darin unterstützen, aktiv die für Prüfungen notwendigen Voraussetzungen zu schaffen statt sie einfach als gegeben vorauszusetzen. Dazu werden Blickwinkel aufgezeigt, die es dem Prüfungsteam und seinem Heimatsystem (Revisionsabteilung, Wirtschaftsprüfungsge­sellschaft, Finanzamt) erlauben, die Grenzen und Möglichkeiten ihres Handelns zu erkunden und zu versuchen die Position des Teams im Prüfungsverlauf zu verbessern (vgl. Haferkorn 2013).

Eine Konzeption der Prüfungstheorie auf Basis der neueren soziologischen Systemtheorie erlaubt es fernerhin, die Errungen­schaften aus den bisherigen Anwendungsbereichen, wie die der Systemischen Organisationsberatung, der Systemischen Therapie, des Systemischen Coaching und der Systemischen Pädagogik, auf Systemische Prüfungs­ansätze zu übertragen. Dies gilt für deren Erkenntnisse sowohl zur Fragetechnik (vgl. Haferkorn 2006) als auch zur Beschreibung der Lebensfähigkeit von sozialen Systemen (vgl. Maturana, Varela 1984 und Luhmann 1984). Der systemische Ansatz bevorzugt beim Umgang mit komplexen sozialen Systemen diejenigen Beschreibungsmodelle, die externe und interne Systembeziehungen als multikausal, zirkulär und rekursiv erkennbar machen. (vgl. Hänsel 2013, Haferkorn 2010, Königswieser, Hillebrand 2004 und Luhmann 2010).

Petra Haferkorn

 

 

Literatur

Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Wiesbaden (VS Verlag), 2. Aufl. 2006.

Haferkorn, P. (2006): Mehr als nur ein paar Fragen. In: Zeitschrift Interne Revision 5/2006, S. 186 – 196. Frankfurt a.M. (Erich Schmidt Verlag).

Haferkorn, P. (2010): Systemische Prüfungen. Systemtheoretische Prüfungstheorie und systemische Prüfungsansätze zur Einschätzung der Lebensfähigkeit von Organisationen. Heidelberg (Carl-Auer).

Haferkorn, P. (2013): Zugleich ´drinnen und ´draußen. In: Zeitschrift Interne Revision 6/2013, S. 292-304. Frankfurt a.M. (Erich Schmidt Verlag).

Hänsel, M. (2013): Der Ordnung halber! Grundlagen der systemischen Beratung. In: Organisation außer Ordnung (Hrsg. Martin Vogel). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 

Königswieser, R., M. Hillebrand (2004): Einführung in die systemische Organisations­berat­ung. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl. 2005.

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt (Suhrkamp).

Maturana, H., F. Varela (1984): Der Baum der Erkenntnis. München (Goldmann), 12. Aufl. 1990.

Puhani, S. (2015): Erfolgreiche Prüfungsprozesse in der Internen Revision. Berlin (Erich Schmidt Verlag).

Simon, F.B. (2014): Einführung in die (System-)Theorie der Beratung. Heidelberg (Carl-Auer).